Quo vadis Düsseldorfer Tabelle? „Die Düsseldorfer Tabelle hat abgedankt.“
Auf eine solche Schlagzeile hoffen immer mehr Betroffene, die Tabelle wurde aber zum 1. Januar 2023 wieder angepasst. Begründet wird dies mit der derzeit herrschenden Inflation, der geänderten Mindestunterhalts-Verordnung als Basis der Tabelle sowie einem geänderten Verständnis dessen, was alles zum soziokulturellen Existenzminimum eines Kindes gehört. Aber: Kann es einfach so weitergehen oder sollte die Tabelle doch „abdanken“?
Zunächst – die Düsseldorfer Tabelle wurde für die Beteiligten zur Gewohnheit. Seit Jahrzehnten gelingt durch sie eine Konkretisierung der vagen gesetzlichen Bestimmungen zur Höhe des Kindesunterhalts. Eltern können sich auch - ganz ohne Beteiligung der Justiz (“ am Küchentisch“) - über den Kindesunterhalt verständigen. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die familiengerichtliche Praxis, die Anspruchshöhe bei Kindesunterhalt der Tabelle zu entnehmen, mehrfach gebilligt; die Tabelle ist akzeptiert.
Die Düsseldorfer Tabelle hat aber offensichtlich Schwächen. Diese wurden bei der Änderung zum 1.1.2023 an drei Stellen deutlich:
- In normalen Zeiten fällt es nicht auf, dass die Düsseldorfer Tabelle einen anderen Ansatzpunkt zur Bestimmung der Unterhaltshöhe wählt als das Gesetz; herrscht aber, wie jetzt, eine Inflation von knapp 10%, dann wird dieses Abweichen sichtbar. So spricht auf der einen Seite das Gesetz davon, dass beim Kindesunterhalt das in der Trennungsfamilie vorhandene Geld möglichst gerecht zu verteilen sei. Die Tabelle auf der anderen Seite baut für den Anteil der Kinder auf deren Mindestbedarf auf, der durch die Mindestunterhalts-Verordnung festgelegt wird. Dieser Mindestbedarf wird prozentual nach „Angemessenheit“ gesteigert. Das Gesetz geht familienintern vor („Wieviel Geld ist da?“), die Tabelle extern („Wieviel Prozent des Mindestbedarfs wird geschuldet?“). Dieser andere Ansatz führt in Inflationszeiten wie heute zu exorbitanten Steigerungen: Verdient ein Schuldner heute, im Jahr 2023, netto 3.300.- € monatlich statt 3.000.- € monatlich wie noch im Jahre 2022 (+ 10 %), so führt dies zu einer Steigerung der Unterhaltsschuld gegenüber einem Zehnjährigen von 524.- € auf 603.- €, einer Steigerung zu Gunsten des Kindes von gut 15%. Dem Schuldner verbleiben demgegenüber nur 8,9 % mehr (+ 221.-€) als im Jahr 2022. Die DTB blendet vollständig aus, dass die 3.300.- € Nettoverdienst aus dem laufenden und die 3.000.- € aus dem letzten Jahr in ihrer Kaufkraft identisch sind. Die Tabelle stuft den Schuldner wegen seines nominal höheren Einkommens in die nächsthöhere Gruppe hoch. Gleichzeitig wird der Bedarf des Kindes um 10 % gesteigert. Diese doppelte Anhebung der Unterhaltsschuld führt zu dem nicht gerechten Ergebnis.
- Die Tabelle lässt den Eltern bei der Frage, ob sie ihre Kinder eher großzügig oder doch bescheiden mit Geldmitteln bedenken sollen, keinen Spielraum mehr. Auch für Schuldner mit einem Einkommen von z.B. 10.000 € netto monatlich legt die Tabelle nach einem Eingriff des BGH den Kindesunterhalt auf den Euro genau fest. Die Eltern können nicht länger bestimmen, ob ein Kind lernen soll, dass „hinter dem Geld sehr viel Arbeit steckt“.
- Auch bei den Mitteln, die dem Unterhaltsschuldner nach Überweisung des Unterhalts verbleiben sollen, führt die Anwendung der DTB immer stärker zu zweifelhaften Resultaten. Das Gesetz verwendet sowohl zur Bestimmung dessen, was die Kinder zu erhalten haben, als auch dessen, was beim Schuldner zu verbleiben hat, denselben Begriff „angemessen“. In beiden Fällen geht es also um die Verwendung der in der (Trennungs-)Familie vorhandenen Mittel. Die Tabelle knüpft dagegen an externe sozial- und steuerrechtliche Rechengrößen wie z.B. das steuerrechtliche Existenzminimum an, um den Selbstbehalt des Schuldners zu definieren. Anders als das Unterhaltsrecht verfolgen das Sozial- und das Steuerrecht übergeordnete politische Ziele der Daseinsvorsorge bzw. der politischen Steuerung. Mit den Zielen des Unterhaltsrechts, das die Beziehungen zwischen Privatpersonen regelt, hat dies nichts zu tun. Lediglich für die Festlegung des Mindestunterhalts und des notwendigen Selbstbehalts ist auf solche externen Rechengrößen aus dem Steuer- und Sozialrecht zurückzugreifen. Der Mindestunterhalt steht den Kindern in jedem Fall zu; kann der Schuldner ihn nicht erbringen, so muss der Staat durch Sozialleistungen die bestehende Lücke auffüllen. In gleicher Weise ist der notwendige Selbstbehalt des Schuldners nicht disponibel.
Auch der DTB ist dabei der Gedanke, dass es im Unterhaltsrecht um Verteilung der in der (Trennungs-)Familie vorhandenen Gelder geht, im Ansatz sehr präsent. Bei höheren Einkünften sieht sie entsprechend einen „Bedarfskontrollbetrag“ für den Schuldner vor, der gerade für eine solche „ausgewogene Verteilung“ sorgen soll. Der Bedarfskontrollbetrag ist nach den Anmerkungen zur Tabelle nicht zwingend zu berücksichtigen. Viele Gerichte wenden ihn in der Praxis auch nicht an. Was dem Unterhaltsschuldner vom Erwerbseinkommen verbleibt, ist im Einzelfall kaum absehbar.
Hielte man sich eng an den Ansatz im Gesetz, dass die in der (Trennungs-)Familie vorhandenen Mittel „angemessen“ zu verteilen sind, so ließe sich als neuer Grundsatz definieren, dass einem zehnjährigen Kind ein konkreter Bruchteil – ein Siebtel oder auch 15 % - des Nettoeinkommens des Unterhaltsschuldners zusteht. Diese Anknüpfung an ein Siebtel des Nettoeinkommens übernähme dabei eine Berechnungsmethode, die von den Gerichten in Deutschland vor dem Aufkommen der DTB verwandt wurde. Mit der Anknüpfung an die 15% des Nettoeinkommens würde man eine im Ausland übliche Methode anwenden. Mit dieser einfachen Bruchteils- oder Prozentrechnung würde die DTB mit allen ihren Einkommensgruppen überflüssig.
Geht man erneut von einem Nettoverdienst des Schuldners von 3.300.- € aus, würde dem Kind nach dieser Berechnungsmethode ein Unterhalt von monatlich rund 480.- € zustehen; das wäre der sich aus der Aufteilung des Nettoeinkommens des Schuldners ergebende realistische Betrag. Um eine vorübergehende Absenkung der bestehenden Unterhaltssätze zu vermeiden, wäre daher im Gesetz noch festzuhalten, dass eine solche Reform mit den neuen Bruchteils- oder Prozentregeln erst anzuwenden wäre, wenn der Unterhalt den Betrag in der Tabelle von 1.1.2023 erreicht. Danach würden die Beträge nur gemäßigt und im Verhältnis zum Nettoeinkommen des Schuldners steigen.
Die Düsseldorfer Tabelle hat systemische Schwächen. Es ist Zeit, über Alternativen nachzudenken.
Ein neues System sollte den Trennungsfamilien im Einzelfall gerecht werden und so übersichtlich sein, dass auch außergerichtliche Regelungen möglich bleiben. Dabei sollten Rechengrößen aus dem Steuer- oder Sozialrecht wie das Existenzminimum von Kindern oder Erwachsenen außer bei der Definition des Mindestunterhalts und des notwendigen Selbstbehalts vermieden werden. Ein Weg könnte darin bestehen, die Einkünfte in der Trennungsfamilie nach einem sachgerechten Schlüssel, also nach Bruchteilen (ein Siebtel) oder Prozentzahlen (15 % pro Kind), aufzuteilen. So ließe sich der Unterhalt für Kinder einfacher bestimmen und Deutschland würde zu einem international verbreiteten Verfahren wechseln. Außerdem ist bei Festsetzung des Unterhalts der individuelle Lebenszuschnitt in den Zeiten vor der Trennung („bescheiden“ bzw. „großzügig“) stärker zu berücksichtigen.
Franz K. *
* Pseudonym – Sollten Assoziationen zu Franz Kafka, „Der Prozess“ evoziert werden, so sind die rein zufällig.